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Der Diskurs der Besorgten

Michael SeibelMichael Seibel - Was berechtigt eine Sorge?   (Last Update: 28.10.2015)

Bevor ich auf die Sorgen zu sprechen komme, die der Zustrom von Asylanten in Deutschland bei vielen auslöst, muss ich einige grundlegende Bemerkungen machen, die Zustimmung und Ablehnung in Diskursen betreffen.

Zustimmung und Erfahrung in Diskursen

Was wir von der Gesellschaft und über die Welt wissen, in der wir leben, wissen wir zum Teil aus eigener Anschauung und zu einem anderen Teil vom Hörensagen aus Medien. Man kann streiten, welcher Teil der größere ist. Meist ist zu lesen, der Teil des Wissens, den wir aus Massenmedien beziehen, sei der bei weitem größere. Andererseits scheint Wissen aus eigener Anschauung (das 'Dabei-Gewesen-Sein') eine höhere Dignität zu haben.

Zweifellos sind beide, unsere eigenen Anschauungen und medial vermittelte Nachrichten aufs engste miteinander und mit unserem Erleben verbunden, haben Anteil an unserer Erfahrung und fließen in unsere Urteilsfindung, unseren Willen und unsere Handlungsbereitschaft ein. Aber selbst das 'Dabei-Gewesen-Sein', das Wissen aus eigener Anschauung, ist keine Garantie für besondere Authentizität. Wer bei einem gut gemachten Rockkonzert dabei war, hat möglicherweise eine faszinierende mediale Inszenierung erlebt, aber kein Leben, das wahrer wäre als der Kopfschmerz am nächsten morgen. Das Erlebnis des Rockkonzerts ist nicht wahrer, sondern interessanter als der Kopfschmerz.


Ist 'interessant' gleich 'real' ?

'Interessant' ist der Wert, den jegliche Nachricht haben muss, um Gehör zu finden, sei es die intimste Nachricht im Gespräch zweier Menschen, sei es deren virale Verbreitung im Internet, sei es die publizistische Nachricht in Massenmedien. Ist sie uninteressant, dann hat sie keinen Nachrichtenwert. Und je nachdem, um was für eine Art von Diskurs es sich handelt, sind es ganz unterschiedliche Merkmale, die eine Nachricht interessant machen. Im Fachgespräch zweier Physiker wird etwas anderes auf Interesse stoßen als beim Verkaufsgespräch in einem Möbelgeschäft oder bei der Lektüre einer Tageszeitung.

Es wird immer wieder auf die Rekursivität der Medien hingewiesen, dass über kurz oder lang das zu unserer Realität wird, was uns als Nachricht vorgeführt wird, auf die sich wieder neue Nachrichten beziehen. Uns ist real, worüber ständig als über etwas Reales gesprochen wird, was fortdauernd als real in Diskursen erscheint. Sicher werden auch Märchen erzählt, und selbstverständlich gab und gibt es explizit Diskurse mit fiktionalen Inhalten. Aber ein Reales, das nicht in Diskursen als solches anerkannt wird, ist nicht vorstellbar.

Der Asylant ist in diesen Sinn ein Diskurs.

- Was sage ich da? -

Ein Asylant ist doch kein Diskurs. Ich treffe Asylanten persönlich. Im Augenblick ist die ehemalige Mannesmann-Zentrale Erstaufnahmeeinrichtung. Ich sehe fremde Kinder auf der Straße Fußball spielen. Fröhliche kleine Jungen. Man hat ihnen Gummibälle geschenkt. Ich sehe Menschen und keine Diskurse. Ich sehe zunächst nicht, was sie von einem Einheimischen im geringsten unterscheidet. Sie sind allerdings verdächtig freundlich, aber einige schauen auch weg. Die Anzahl Unbekannter, die grüßen, ist höher als gewöhnlich.


Auch bedingungslose 'Menschlichkeit' - ist Verhandlungssache

Mein eigener Blick ist natürlich ebenfalls nicht voraussetzungslos. Ich bin gewohnt, in Fremden, die mir freundlich grüßend gegenübertreten, keine Gefahr zu sehen. Die Anerkennung, die ich ausdrücke, indem ich sage, das sind doch Menschen und keine Diskurse, diese Menschen sind nicht etwas, das in seinem So-Sein davon abhängt, wie über es gesprochen wird, ist selbst Teil eines Diskurses, nämlich der langen und bis heute nicht abgeschlossenen Aushandlung individueller Menschenrechte. Dieser Diskurs, der Teil meiner persönlichen und kulturellen Erziehung ist, hat mein Verhältnis zu diesen Menschen, denen ich jetzt gerade zum ersten mal begegne, schon bestimmt, als noch keiner von ihnen auch nur in Sicht war, noch in irgendwelchen Medien von ihnen die Rede war. Ich stehe ihnen also vollkommen kritiklos gegenüber. Und das finde ich ebenso richtig, wie einem neugeborenen Kind vollkommen kritiklos gegenüberzustehen.

Selbstverständlich bin ich nicht naiv. Sollte ich nachts überfallen werden, wäre das durch keine Menschenfreundlichkeit gedeckt und der Angreifer würde aus mir sogleich seinen Feind machen. Es würde jedoch keine Rolle spielen, ob der Angreifer ein Asylant oder ein Einheimischer wäre.


Grund für Asyl ist nicht 'Übereinstimmung' mit Asylanten

Und ebenso wenig naiv bin ich in einer weiteren Hinsicht. Wenn ein Erwachsener, woher er auch immer kommt, in Deutschland um Asyl bittet, gehe ich keinesfalls davon aus, mit ihm in irgendwelchen Überzeugungen übereinzustimmen. Möglicherweise ist er ein Befürworter der Scharia. Ich weiß es nicht. Ich kenne ihn nicht. Aber es ist auch nicht der Glaube an die Übereinstimmung seiner und meiner Überzeugungen, aus dem heraus ich dafür bin, ihm Asyl zu gewähren, sondern es ist einzig und allein meine eigene Überzeugung, dass verfolgtes Leben zu schützen ist. Und dass es meine Überzeugung ist, heißt nicht, dass ich mich für den genuinen Erfinder dieser Überzeugung halte. Ich teile vielmehr diese Überzeugung. Ich führe eine Tradition fort, einen Diskurs, der vor mir begonnen hat und sich ständig verändert.

Der Satz: 'Der Asylant ist doch kein Diskurs, er ist zu allererst ein Mensch' ist selbst Teil eines Diskurses, einer langen Erziehungsgeschichte und einer noch viel längeren politischen Geschichte und Geistesgeschichte, Ziel brutalster Unterdrückung, aber auch Teil aktueller Streitgespräche, etwas, dass in Medien präsentiert werden muss, wenn wieder die Rede davon ist, der Asylant sei kein Mensch, sondern eine Gefahr, die man loswerden muss.

Das Bestehen auf voraussetzungsloser Akzeptanz im Satz 'Er ist ein Mensch' ist also selber alles andere als voraussetzungslos. Es ist eine Errungenschaft. Sie hat ihren Weg ins deutsche Grundgesetz gefunden, denn der grundsätzliche Rang, der jedem Individuum vor der eigenen Gruppe oder Volksgemeinschaft gegeben wird, verarbeitet die Erfahrung faschistischer Herrschaft, verklärt aber auch janusköpfig die Ideologie persönlicher Leistung im Kapitalismus. Es ist praktisch unmöglich, all die Kontexte und Nebenklänge zu überblicken, in die man sich mit seinen Überzeugungen begibt. Aber das scheint mir charakteristisch für jede Selbstbestimmung, für jedes eigene Auftauchen aus Diskursen. Chilons Aufgabe - Erkenne dich selbst - stellt sich heute auch von dieser Seite her. Entwirre die Voraussetzungen deines eigenen Denkens!



Der Asylant ist ein Signifikant in Diskursen

- also zurück -

Der Asylant ist ein Signifikant im Diskurs oder genauer, in sehr vielen unterschiedlichen Diskursen. Alles, was man über jemanden sagt, wenn man ihn einen Asylanten nennt, bezieht seine Bedeutung aus Diskursen. Ebenso alles, was man ihm zuspricht, wenn man über ihn sagt, er sei zu allererst ein Mensch. Und ein Asylantenheim würde wahrscheinlich von niemandem angesteckt, wenn es nur ein Gebäude ohne Bedeutung wäre.
(Es wäre allerdings auch als Gebäude nie sinnlos gebaut worden. Man findet nie reine Dinge. Aus Diskursen schert nur das Uninteressante aus.)

Nun variieren manche Diskurse ihre jeweiligen Themen sehr stark, andere arbeiten mit weit geringeren Bedeutungsvariationen, bestehen geradezu darin, Bedeutungsvarianten möglichst stillzustellen, um Eindeutigkeiten zu produzieren und verändern ihre gültigen Bedeutungsvariationen nur sehr langsam. Unterschiedliche Diskurse existieren nebeneinander. Man kann nicht voraussetzungslos von einem in den anderen wechseln. Wissenschaftliche Diskurse bemühen sich um möglichst unveränderliche Bedeutungen, selbst wenn sie ständig neue 'Ergebnisse' produzieren. Diskurse via Massenmedien und Internet versuchen meist im Gegenteil, Bedeutungen in Bewegung zu versetzen und zu halten und Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.

So taucht der Begriff Asylant in Publizistik und Medienöffentlichkeit in einer extremen Bedeutungsbreite auf. Wie der Blick auf einschlägige Google Suchergebnisse zeigt, kann ein Asylant in medialen Diskursen vieles sein. Im juristischen Diskurs ist seine Bedeutung entschieden enger gefasst, aber auch hier nie ganz stillgestellt. Aber auch juristische Diskurse haben eine gewisse Breite an Bedeutungsmöglichkeiten, sonst würden sie aufhören, überhaupt Diskurse zu sein. Über etwas zu sprechen, das völlig eindeutig ist, ist streng genommen unmöglich. Man muss zumindest unterstellen, dass die Rede für den, an den sie ergeht, irgendeinen Mitteilungswert hat und sei es auch nur der, dass er durch sie in einer Ansicht bestätigt wird, die er bereits hat. Sie erzeugt dann den Unterschied zwischen einer bestätigten und einer unbestätigten Bedeutung.

Unterschiedliche Diskurse stellen unterschiedliche Anforderungen an Realitätsprüfung, Beweis oder Wiederholbarkeit durch andere. Soweit ich sehe, sehen alle Diskurse die Zustimmung anderer als Prüfungsmöglichkeit vor. Sehr unterschiedlich sind jedoch die Regeln, die festlegen, aufgrund von was mit Zustimmung zu rechnen ist.

Die fiktive Schulklasse

Als Beispiel diene eine fiktive Schulklasse, in der das Tragen einer bestimmten Marke von Sneekers gerade ein Muss ist. Das Beispiel scheint einfach genug, da es kaum Geschichte auf Seiten aller Beteiligten voraussetzt und die Diskurse, die beim Zustandekommen dieser Mode in einer Schülergruppe eine Rolle spielen, dadurch überschaubar sind. Es hat Vorbilder gegeben, über die gesprochen wurde. Man wird sich durchaus auch reflektierend darüber verständigt haben, was an den Vorbildern beeindruckend war und bewundernswert. Es wird möglicherweise zu Serien von Geschichten gekommen sein und zu einer sich stabilisierenden phantastischen Umgebung für des Geschehen in der Gruppe, das die Gruppenmitglieder verbindet, und nur von innerhalb der Gruppe erlebbar ist, weil man Teil der Gruppe sein muß, um miterleben zu können, was es heißt, ein bestimmtes Idol zu verehren. Sollten die Sneekers mit der bewunderten Person, ihren Leistungen und Lebenssituationen in Verbindung gebracht worden sein, so kann das Tragen dieser Sneekers zugleich Zustimmung und Partizipation gegenüber den Objekten der Bewunderung ausdrücken und der Träger darf seinerseits von den anderen, die ebenfalls am bewundernden Diskurs teilnehmen, Bestätigung erwarten, wenn er Sneekers der betreffenden Marke trägt.

Bemerkenswert scheint mir auch zu sein, dass diese die Gruppe vereinigende Bewertung auch trotz größerer Unterschiede der bisherigen Erziehungserfahrungen der Kinder möglich ist. Es passiert also durchaus etwas Neues, das nicht einfach als Produkt der elterlichen Erziehung angesehen werden kann oder als deren sinngemäße Fortschreibung. Es scheint durchaus nicht erforderlich zu sein, das Netz der Kommunikationen jedes einzelnen Schülers bis in dessen Frühkindheit zurückzuverfolgen, um die plötzliche Marken-Begeisterung zu verstehen.

Gegen den Vorgang ist wenig zu sagen. Man teilt einen bestimmten Geschmack und erlebt Zustimmung. Etwas Akzidentielles wird Erkennungszeichen. In diesem einfachen Rahmen lassen sich alle möglichen Urteile über die Innen- und die Außenwelt der Gruppe fällen, ohne dass es einer weiteren Realitätsprüfung bedürfte. Damit kann jemand verächtlich werden, einfach, weil er die entsprechenden Sneekers nicht trägt. Und machen wir uns nichts vor, in diesem Kontext ist er wirklich verächtlich, zumindest ebenso wirklich, wie in meiner diskursiven Welt ein Asylant wirklich und grundsätzlich ein verfolgter Mensch ist, der Schutz verdient.

Damit sage ich nicht, dass beide Standpunkte auch nur im geringsten gleichwertig sind. Aber es wäre falsch, dem infantilen Diskurs vorzuhalten, dort werde Zustimmung ohne entsprechende Prüfung erwartet, nur, weil er auf andere Weise prüft als ein Wissenschaftler seine Experimente oder ein Richter seine Beweise.

Faktencheck, Kompetenz und Zustimmung

Es erfordert Qualifikationen, einen medizinischen Diskurs zu führen, andere, an einem juristischen angemessen teilzunehmen, aber auch, um mit seiner 10-jährigen Tochter kompetent über Sneekers zu reden oder mit einem Populisten über Asylanten. Und es führt zu nichts, als Außenstehender dem Eingeweihten seine Diskurskompetenz abzusprechen. Das macht man weder mit seinem Arzt oder seinem Anwalt, noch mit seiner Tochter. Warum sollte das gegenüber einem Populisten funktionieren?

Und im Grunde will man nicht in seinen Diskurs eintreten, um ihn immanent eines Besseren zu belehren, wie es die zu versuchen scheinen, die bemüht sind, Populisten mit Fakten zu konfrontieren nach dem Schema: Behauptet wird: Asylanten vergewaltigen vermehrt deutsche Frauen. Fakt ist: es tritt keinerlei Häufung in diese Richtung auf. Also unterlasst die Behauptung!

Das Schema funktioniert deshalb nicht, weil es denen, die solche Behauptungen aufstellen, nicht um die Zustimmung derer geht, die sie widerlegen.

Bei näherer Hinsicht zielt der Faktencheck auch nicht darauf ab, den Populisten durch Widerlegung zur Umkehr zu zwingen, sondern darauf, ihn aus dem eigenen Diskurs und der Gemeinschaft derer, die daran teilnehmen, auszuschließen.

Dass wir als Menschen alle über die selbe Vernunft verfügen, wie Kant meinte, heißt selbst wenn es zutreffen sollte, nicht, dass es im Grunde nur einen einzigen Diskurs gibt, dessen Argumente jedem zwingend erscheinen. Ich glaube auch nicht, dass man sich auf die Position zurückziehen kann, dass wir im Grunde alle über die selbe Rationalität verfügen und dass es vor allem deshalb zu Missverständnissen kommt, weil wir gewohnt sind, unsere Eigeninteressen zu verschweigen oder zu beschönigen, sodass wir, wären wir nur frei genug davon, uns in kantischer Manier einigen könnten. Ich würde dafür plädieren, Populisten weder für primär verlogen, noch für primär verblödet zu halten.



Was tut man, wenn man einem Populisten vorhält, dass Asylanten deutsche Frauen nicht in höherem Maß vergewaltigten als deutsche Männer das tun? Man konfrontiert ihn mit Fakten. Man sieht sich berechtigt und verpflichtet, ihm den Gebrauch des unsachlichen Arguments zu verbieten, weil in dem Diskurs, den man selbst favorisiert, Argumente nach bestimmten Regeln verifiziert werden müssen und weil man sich im eigenen Diskurs an das Gebot gebunden fühlt, sachlich falsche Argumente nicht zu verwenden. Warum nun sollte sich der, der sich aus unserer Sicht benimmt wie ein unverbesserlicher Lügner, dem Verbot unterwerfen, das mich selbst bindet? Doch wohl vermutlich aus einem ähnlichen Grund, aus dem ich selbst mich diesem Verbot unterwerfe.

Und erneut ruft Chilon mir (und nicht ihm) zu: Erkenne dich selbst! Was ist denn dein Grund? Was bindet dich?


Wir führen nicht den selben Diskurs

Soweit es um Zustimmung geht, zählt allein das, wodurch Zustimmung erreicht wird. Im mir vertrauten Diskurs ist ohne bestimmte Formen der Prüfung, deren nicht immer unaufwendige die ist, ob Tatsachenbehauptungen richtig sind, kaum Zustimmung zu erwarten. Im Dialog des Lügners, der Falschmeldungen in die Welt setzt, ist das offenbar anders. Es ist nicht leicht zu entscheiden, ob der Demagoge und ich überhaupt in ein und denselben Diskurs auftauchen, wenn wir z.B. beide unsere Meinung im Internet veröffentlichen. Auf eine Google-Anfrage hin wird man beide Statements nachgewiesen bekommen, ganz so, als handele es sich um einen einzigen Diskurs, in dem zwei Diskutanten zwei grundverschiedene Positionen vertreten. Da die Diskursregeln, denen er folgt, jedoch andere sind als die, denen ich selbst folge, spricht alles dafür, dass es sich um zwei verschiedene Diskurse handelt.

Um derlei Fragen, ist es ein Diskurs oder sind es zwei verschiedene Diskurse, wird auch anderswo gestritten. Man denke nur an die Debatten um die Frage, ob die Psychoanalyse eine Wissenschaft ist oder nicht, die nichts anderes ist als solch ein Streit. Den wesentlich langwierigeren und nachhaltigeren Streit kennt man bei der Frage, ob Religion und Naturwissenschaften einen gemeinsamen Diskurs führen oder nicht. Dieser Streit ist längst einvernehmlich entschieden. Sie tun es nicht.


Zustimmung und Diskurs-Macht

Bei solchen Streitigkeiten geht es nie nur um Meinungen, sondern um Machtverteilungen. Die Abspaltung eines Diskurses (z.B. der Wissenschaften von der Religion) muss als Machtverlust aufgefasst werden, der Versuch eines Diskurses, der offenbar anderen Regeln folgt, möglichst nicht als anderer erkannt zu werden, sondern als zugehörig, stellt im Gegenteil den parasitären Versuch dar, einen Teil von dessen Macht für sich zu reklamieren.

Es ist in der Tat für Populisten nicht günstig, als irrational dazustehen, wenn die Mehrheit der Öffentlichkeit und vor allem Schlüsselstellen der Publizistik sich bestimmten Formen der Realitätsprüfung verpflichtet sehen. Es zeichnet den Populisten andererseits aus, dass er offensichtlich auf einem ganz anderen Feld zustimmungsfähig ist. Ich halte mich noch zurück damit, diesem zweiten Feld einen Namen zu geben, bevor ich es nicht etwas deutlicher vorgestellt habe.


Alarm und Sorge

Jedenfalls ist eine Kompromissbildung zu erkennen, die in der Öffentlichkeit folgendem Argumentationsmuster folgt:

1. Es trifft zu, dass Asylanten nicht signifikant öfter blonde deutsche Frauen vergewaltigen als deutsche Männer das tun...

2. aber wie können wir sicher sein, dass das so bleibt, wenn mehr Ausländer kommen?

Der populistische Diskurs konfrontiert uns typischerweise mit einem Doppelgesicht von Alarm und Sorge. Und zwar mit einer bestimmten Form diese rhetorischen Figur, denn die Ansprache über Alarm und Sorge selbst ist neben dem Unterhaltungsangebot eine der Grundvarianten der öffentlichen Rede, der Rhetorik und Publizistik, die sie z.B. vom wissenschaftlichen Diskurs unterscheidet, der grundsätzlich weder alarmistisch ist, noch Sorge thematisch macht. Spezifisch für den Populismus ist jedoch, dass er in endlosen Wiederholungen und Kreisungen in sich selbst die Prüfungsformen hintergeht, die wir gewohnt sind, mit dem Prädikat rational zu versehen, bevor wir es zur Zustimmung kommen lassen.

Ein Blick auf die populistische Wendung:
es muss erlaubt sein zu sagen...

Dazu ein eindeutiges Ja, die Meinungsfreiheit erlaubt, fast alles zu sagen.

Und gleich hinterher ein ebenso eindeutiges Nein, der rationale Diskurs erlaubt es nicht, ständig etwas zu wiederholen, dass falsch ist.

Und sogleich der Schwenk zurück: Ja, der Diskurs der passiven Sorge erlaubt es nicht nur wieder, er erzwingt es geradezu. Man kann dem Hypochonder nicht verbieten, sich für todkrank zu halten.

Ich zitiere also einige Sorgen.

"Ich will nicht Schulen erleben, wo Eltern Angst haben müssen, wenn ihre Kinder Schweinefleisch zum Frühstück mitbringen. Wir müssen unsere Identität behalten."

"Es ist sicher nicht jeder Muslim ein Terrorist."

"Eltern fragten sich, ob Hunderte Männer in den Turnhallen von Schulen eine Bedrohung für ihre Kinder sind. Die Angst ist da."

"Es gebe bereits "Banden von Asylanten", die das Asylrecht kriminell missbrauchten“

„Ich habe die Sorge, dass wir mit der Integration von Asylanten an einen Punkt kommen, an dem wir überfordert sind.“

Frage: was berechtigt eine Sorge?

Das hängt davon ab, in welchen Diskurs man nach der Berechtigung fragt. In populistischen Diskursen erscheint eine Sorge durch die Zustimmung der Besorgten berechtigt. „Finden Sie nicht auch, dass...?“ Solche Aussagen sind nicht mit einer Art Faktencheck zu erledigen, wenn sie längst auf eine Weise Zustimmung gefunden haben, die der Zustimmung zu den Sneekers meines Lupus ex fabula vergleichbar ist. Es handelt sich in der Tat um ein Geschmacksurteil, das Gefallen und Missfallen zum Thema hat. Und das ist so weit von jeder Beliebigkeit entfernt, wie es nicht ins Belieben des einzelnen Schulkindes aus unserem Beispiel gestellt ist, ob es eine bestimmte Sneekersmarke goutiert oder nicht. Sein Geschmacksurteil ist insofern nicht beliebig, als es an die Teilnahme an bestimmten Diskursen geknüpft ist.
Um die dabei obwaltende Notwendigkeit nachzuvollziehen, bedarf es etwas, das Nietzsche eine Genealogie der Sorgen genannt haben würde.

Denn es stellt sich die Frage: Was ist eine Sorge?


Heidegger

Niemand hat innerhalb der Philosophie der Sorge eine grundlegendere Rolle eingeräumt als Heidegger in Sein und Zeit. Für Heidegger sind wir Menschen ganz grundsätzlich besorgte Wesen. Er hat in der Sorge eine Grundbefindlichkeit des Daseins (ein Existential) gesehen. Unser Dasein ist durch das In-der-Welt-sein bestimmt. Alles, was der Mensch tut, denkt und hofft, ist bezogen auf die Welt, in der er lebt und aus der er die Bedingungen und Möglichkeiten seiner Lebensgestaltung schöpft. ›Sorge‹ ist für ihn die konstitutive Grundstruktur des menschlichen Daseins und nicht einfach nur ein Gefühl, Sorge ist die » Ganzheit des Strukturganzen des Daseins «, so Heidegger in Sein und Zeit (§ 39).

Aber für Heidegger ist die Sorge gerade darin nicht etwas Passives, und es geht der Sorge nicht darum, die Schuld an der Ausgesetztheit und Endlichkeit des eigenen Daseins auf andere abzuschieben. Sie ist wesentlich in die Zukunft vorlaufende Entschlossenheit oder Selbst-ständigkeit. »Das Gewissen offenbart sich als Ruf der Sorge [. . . ] Der Ruf des Gewissens, das heißt dieses selbst, hat seine ontologische Möglichkeit darin, dass das Dasein im Grunde seines Seins Sorge ist.« (Heidegger, Sein und Zeit § 57)

Ganz alltäglich würde, wer sich Sorgen macht, dass das Dach seines Hauses undicht sein könnte, sein Dach einer Inspektion unterziehen oder, falls er sich damit überfordert fühlt, einen Handwerker beauftragen. Wer sich nicht wohl fühlt und sich sorgt, krank zu sein, der würde zum Arzt gehen, von dem er Diagnose und Therapie erwartet. Wessen Kind Schwächen in einem Schulfach zeigt, wird, falls er sich deshalb Sorgen macht, versuchen, Hilfestellungen zu geben.

Wer sich konkrete Sorgen macht, wird also normalerweise bestrebt sein, das Problem zu verstehen und Abhilfe zu schaffen. Er wird nicht auf einen Zustand hinarbeiten, der den Anlass seiner konkreten Sorge verewigt. Er wird zum Gegenteil eines Bedenkenträgers. Wenn man Heideggers Maßstab anlegt, wird man sagen, er wird die Sorge annehmen und Verantwortung übernehmen, offen und nicht aus einer Festungsmentalität heraus.

Daraufhin lohnt es, die mitgeteilten Sorgen durchzusehen. Äußerungen wie "Es ist sicher nicht jeder Muslim ein Terrorist" ist abstrus und beleidigend. Steckt dahinter wirklich die Sorge, der eine oder andere Asylant könnte ein Terrorist sein? Würde hinter dem strukturgleichen Satz „Nicht jeder Papst ist ein Kinderschänder“ wirklich eine Sorge um Kindeswohl stecken oder erschöpft sich solch eine Aussage nicht in der beleidigenden Absicht?

"Ich will nicht Schulen erleben, wo Eltern Angst haben müssen, wenn ihre Kinder Schweinefleisch zum Frühstück mitbringen. Wir müssen unsere Identität behalten."

Ist, wer so redet, besorgt oder nicht? Sagt der: „Ich habe Angst, wenn meine Kinder Schweinefleisch zum Frühstück mitbringen“? Dann wäre die nächste Frage, geht es ihm darum, ein Problem zu erkennen und zu lösen? Gibt es eine Realitätsprüfung und wie sieht die aus? Könnte man also gemeinsam durch die Schule gehen und konkrete Gefährdungen identifizieren, um diese dann abzustellen? Oder werden phantastische unbetretbare Räume in der Phantasie und im Diskurs geschaffen, Orte, an die man nicht gehen darf, gefährliche Orte, Orte der Ausgrenzung? Der Widersinn solcher Orte ist da am größten, wo die dorthin Ausgeschlossenen, die Gettoisierten auch noch für die Tatsache, dass es Gettos gibt, verantwortlich gemacht werden.


Sperrzonen

Plötzlich hat man in Duisburg oder Dortmund Zigeunergettos, in die niemand ziehen will, weil sie durch die Zigeuner heruntergekommen sind. Sie sind es, die nicht aufräumen, die Grundstückspreise versauen und übergriffig werden. Es sind also die Ausgeschlossenen, die sich selbst ausschließen. Das ist die ständig wiederholte Formel eines ausländerfeindlichen Populismus.

Inhalt der zugehörigen Form von Sorge ist es, Freiheitsräume nicht mehr betreten zu können, unfrei und passiv zu sein und – hier schreit dann alles nach Aktion – , diese Grenze durchbrechen zu müssen.
Wollen wir das als Sorge gelten lassen?

Nochmals der Vergleich mit dem möglicherweise undichten Dach: Der ausgrenzende Populismus verhält sich, als dürfe man das Dach von dem Moment an, in dem man ein Loch vermutet ohne Genaueres zu wissen, nicht mehr betreten. Es könnte am Ende ja wirklich ein Loch haben. Es zu betreten, könnte demnach gefährlich sein. Man könnte stürzen. Man muss es sperren. Schlimmer noch: Am Ende wird behauptet, jemand habe hinterhältig und unablässig Regen aufs Dach gekippt und dafür gesorgt, dass das eigene Dach zum No-Go-Area wird. Jetzt endlich sei man erwacht und habe es bemerkt. Es sei nicht fünf vor zwölf, sondern 5 Uhr 45.

„Eltern fragten sich, ob Hunderte Männer in den Turnhallen von Schulen eine Bedrohung für ihre Kinder sind. Die Angst ist da."

OK, lasst uns die Verhältnisse anschauen und zu einem Urteil kommen. Wenn das stimmen sollte, wohin dann mit den Hunderten von Männern? Eine Antwort darauf gehört dann mit zur Lösung. Weg damit! … ist keine Antwort.

Oder doch? Selbst bei Zigarettenkippen haben wir uns daran gewöhnt, dass man sie nicht einfach auf die Straße schmeißt, weil wir uns in einem geradezu Heideggerschen Sinn um Sauberkeit sorgen. Weg damit! … ist ein eindeutiges Zeichen, dass unsere Sorge beendet ist.

Zwei Kriterien für Sorgen, die keine sind, sondern nur aufgewärmtes Ressentiment, hätten wir:

1. sich sorgen, ohne zu besorgen, ist keine Sorge und

2. die Kurzformel: weg damit! Steht dafür, dass jemand sich definitiv keine Sorgen macht.


Das erste dieser beiden Kriterien kennzeichnet die faktenresistente Zirkularität des Ressentiments, die zweite die Schwelle zur aggressiven Aktion.


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